Vor kurzem wurde ich in einem LinkedIn Live-Interview von Userlane zum Thema Innovation und Innovationskultur befragt. Rückblickend war das Gespräch eine sehr komprimierte Übersicht über den Innovationsprozess, einige Best Practices und den Wert von Pilotprojekten. Daher teile ich die Zusammenfassung und die Erkenntnisse hier gerne auch im Blog.

Der Moderator Felix hat mich vorab um ein paar Statements gebeten, die als Grundstruktur für das Interview dienen sollen. Das Interview könnt ihr euch hier auch noch einmal komplett ansehen:

Die drei Kernthesen aus dem Talk sind:

  1. Beginne beim Problem, nicht bei der Technologie.
  2. Fokussiere auf das Minimale im Prototypen und das „Viable“ in deinem MVP.
  3. Nutze Innovationsprojekte als Triebfeder für deine Innovationskultur.

Beginne beim Problem, nicht bei der Technologie.

Was ist denn ein Beispiel für fehlgeleitete bzw. schlechte Innovation?

Ein sehr prominentes Beispiel für fehlgeleitete Innovation ist aus meiner Sicht das Cockpit eines Tesla-Fahrzeugs. Dort wurde als zentrales Steuerelement ein großer Touchscreen integriert.

Wenn wir mit dem Auto fahren, müssen wir gewisse Dinge wie die Heizung oder das Radio oder auch Einstellungen zum Fahrverhalten blind bedienen können. Ein Touchscreen gibt jedoch kein haptisches Feedback und lässt sich nahezu unmöglich treffsicher bedienen, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Tesla hat also eine Steuerkonsole für ein voll-autonomes Auto in ein semi-autonomes Auto verbaut. Basis der Entscheidung war vermutlich, dass ein so modernes Auto nicht einfache Schalter und Drehregler als Kernelement haben sollte, wie vor 30 Jahren schon, sondern eine „neuartige“ Technik wie einen Touchscreen integrieren muss.

Aber ist das im Sinne des Nutzers? Löst es das eigentliche Problem? Studien haben erwiesen, dass ein Auto wie Tesla bis zu 50% mehr kognitive Anstrengung beim Fahren erfordert als ein vollständig manuelles Auto. Ist das dann wirklich Innovation?

Was passiert denn genau, wenn Unternehmen stärker auf die Technologie als auf die Probleme fokussiert?

Naja, man kennt ja das Sprichwort „Wenn ich nur einen Hammer habe, sieht alles wie ein Nagel aus“. Aus diesem Ansatz ergeben sich zwei grundlegende Probleme:

  • Man betrachtet nur Probleme, die zur bereits gewählten Lösung passen. Ohne zu hinterfragen, ob es überhaupt das relevanteste Problem ist.
  • Wenn man mit der Lösung beginnt, denkt man typischerweise nicht ausreichend über das eigentliche Problem nach. Darüber wer der Nutzer ist und was dieser eigentlich benötigt.

Wenn man also einen aktuellen Trend oder eine Technologie als treibende Kraft nimmt, gibt es eine gute Chance am Ende das Problem nicht ausreichend oder zu aufwendig zu lösen oder vielleicht sogar gar kein reales Problem zu lösen.

Innovation bedeutet nicht Kreativität oder die Nutzung von neuen Möglichkeiten. Es geht darum realen Mehrwert für eine reale Zielgruppe mit einem wirklich existierenden Problem zu schaffen – und das auf eine bisher noch nicht praktizierte Art und Weise.

Im Produkt Management gibt es das Jobs to be Done Framework (JTBD) – ich bin ein großer Fan und Befürworter dieser Methodik. Der Kerngedanke ist, dass ein Nutzer keine Bohrmaschine und auch kein Loch in der Wand möchte. Er möchte ein Bild aufhängen. Wenn man jetzt mit der Bohrmaschinen-Idee startet, ist der Lösungsraum sehr eindimensional. Wenn man aber vom eigentlich Problem aus startet, kommt man vielleicht als Lösung auf ein selbstklebendes Magnet-System, dass spurlos entfernt werden kann und bei dem man regelmäßig die Bilder tauschen kann.

Und wie funktioniert dann problem-basierte Innovation?

Im Grunde ist das relativ simpel. (Wie Felix im Interview aber anmerkt, sind Dinge die sehr simpel klingen für jemanden ohne Erfahrung häufig trotzdem große Hürden. Nicht ohne Grund kann das InnovationLab auf diesem Thema ein ganzes Geschäftsmodell fußen…)

Man startet bei der User Journey Map.

Das können ganz einfach Post-Its auf einer großen Wand sein, oder man arbeitet direkt mit einem digitalen Whiteboard wie Mural oder Miro. Die Journey sollte das komplette Kundenerlebnis umfassen – vom Kennenlernen des Produktes über alle Nutzungsszenarien bis zum Ende des Lebenszyklus.

Wichtig dabei: Die Nutzerjourney wird aus Nutzerperspektive beschrieben! Es gibt vielleicht einige kritische Schritte die der Nutzer durchläuft, in denen euer Produkt bisher gar keine Rolle spielt. Diese Schritte sind aber dennoch Teil der Journey.

Dann reichert man die Map mit ein paar Datenpunkten an. Zumindest die folgenden drei Datentypen sollten sich auf jeder guten Map befinden:

  1. Wo hat die Benutzererfahrung derzeit die größten Probleme? Wo sind bekannte Reibungspunkte? Hier kann man auch einfach auf Support-Tickets und Feedback von Kunden und Vertriebskontakten zurückgreifen.
  2. Welche Kennzahlen werden derzeit erhoben und wo möchte sich das Unternehmen verbessern? Hier entsteht dann auch der Link zwischen dem Produkt, der Produkt-Strategie und der Unternehmensvision.
  3. Welche Touch Points mit dem Nutzer bergen die größten Potentiale sich über den Wettbewerb zu erheben und wo verstecken sich die größten Risiken?

Der sinnigste Punkt zur Fokussierung sollte nun direkt ins Auge springen.

An diesem Fokuspunkt zoomen wir jetzt rein. Wir erarbeiten wieder eine Journey Map – diesmal aber im Detail. Dazu lohnt sich ein wenig pragmatischer Research zur Nutzung.

Von den daraus resultierenden Nutzerproblemen wählt man jetzt das kritischste Problem aus und arbeitet dann auf eine gute Lösung hin. Hier eignet sich die Design Sprint Methodik hervorragend – nicht umsonst eine unserer Kernleistungen.

Völlig unabhängig von dem Ergebnis dieser Lösungserarbeitung: Man nimmt das Feedback und bringt es wieder in das Big Picture ein. Es ist ein iterativer Prozess. Wir beginnen von vorne in der nun überarbeiteten User Journey Map und entscheiden uns für den nächsten Fokuspunkt.

Fokussiere auf das Minimale im Prototypen und das „Viable“ in deinem MVP.

Was sind typische Fehler die Unternehmen begehen, wenn sie Prototypen und MVPs entwickeln?

Der größte Fehler vieler Unternehmen ist es gar keinen Unterschied zwischen einem Prototypen und einem MVP zu machen. Beide verfolgen jedoch völlig verschiedene Ziele.

  • Prototyp: Die einfachste Art eine Annahme zu validieren oder eine Frage zu beantworten. Die Entwicklung sollte zwischen einer Stunde und zwei Tagen dauern und niemals das Licht des Produktivservers erblicken.
  • MVP (Minimal Viable Product): Die erste Version deines Produktes, die bereits einen Mehrwert stiftet, das Nutzerproblem (ausreichend) löst und sexy genug ist, um an Kunden verkauft zu werden. Es muss sich dabei um ein komplettes Produkt handeln. Mit Support. Mit Dokumentation. Mit einer soliden Software-Architektur.

Viele Unternehmen mischen beide Konzepte und entwickeln über Monate hinweg einen Prototypen, der aber nicht durchdacht und solide genug ist, um eine Basis für die Zukunft zu sein.

Diese Firmen kombinieren die schlechtesten Aspekte aus beiden Konzepten ohne von den Vorteilen zu profitieren.

Ein Prototyp beantwortet Fragen wie „Wird das unser Problem lösen?“ oder „Würden Nutzer dieses Interface verstehen?“. Ein MVP wiederum beantwortet die Frage „Können wir um dieses Produkt herum ein Business aufbauen?“.

Was sind Charakteristika eines guten Prototypen?

Ein guter Prototyp sieht real genug aus, um reales Feedback von echten Nutzern zu generieren. Eine schöne Analogie die ich gerne bemühe sind Wild-West-Filme. Dort sieht man immer eine lange Straße mit Saloons und diversen Häusern, Pferden und allerlei Alltagsleben. Wenn man aber durch eine Tür durch geht merkt man, dass es nur ein Filmset ist und man statt in einem Haus in der Wüste hinter der Pappwand steht.

Genau das ist ein Prototyp. Eine real wirkende Fassade des echten Produktes. Daher ist es auch wichtig, dass alles aus dem Prototyp ausgelassen wird, was nicht der Beantwortung der Fragestellung dient. Der Zweck heiligt hier die Mittel.

Und ein guter Prototyp wird nach der Beantwortung der Fragen weggeworfen und nie weiter ausgebaut bis zu einem „fertigen“ Produkt.

Und was macht wiederum ein „viable“ MVP aus?

MVPs sind leider ein Thema welches viel diskutiert wird und meistens dennoch falsch gemacht wird. Ein Grundproblem in dieser Diskussion ist der Skateboard-Gedanke. Hier habe ich vor kurzem bereits einen Artikel zu geschrieben.

Ausgehend von dem überarbeiteten Skateboard-Gedanken kann man also sagen, dass ein gutes MVP das kleinste Feature-Set sein muss, welches immer noch vollständig „viable“ aus Nutzersicht ist, und qualitativ wie das fertige Produkt entwickelt und supported wird.

Nutze Innovationsprojekte als Triebfeder für deine Innovationskultur.

Wie sieht denn eine Innovationskultur überhaupt aus?

Wenn man sich Firmen ansieht, die Innovation als festen Teil ihrer DNA haben, dann beobachtet mein meistens drei Eigenschaften:

  1. Sie planen nicht über Jahre in die Zukunft. Eine sehr detaillierte Roadmap über die nächsten 20 Releases mit genauen Daten und Versprechungen passt einfach nicht zu schnellen Innovationsprozessen. Es gibt andere Wege Nutzer, Investoren und das Management einzubinden.
  2. Sie priorisieren Lerneffekte höher als schnelle Resultate. Sie sind immer bemüht möglichst viel über den Nutzer, den Markt und die Nutzung ihres Produktes zu erfahren. Und neue Ideen und Annahmen zu testen und zu validieren. Sie greifen nicht nur nach den „Low Hanging Fruits“.
  3. Sie fördern eine partizipative Unternehmenskultur und hören ihren Mitarbeitern zu. Sie binden die Wissensträger aus ihren Prozessen und aus dem direkten Kundenkontakt in Projekte und Entscheidungen mit ein. Ein Innovationsprojekt hat nahezu keine Chance langfristig erfolgreich zu sein, wenn es ausschließlich aus dem höheren Management heraus betrieben wird.

Wie können hier Innovationsprojekte helfen?

Man muss sich öfter vor Augen führen, dass viele Mitarbeiter nie die Arbeit in einem agilen Projekt oder einem agilen Prozess miterleben konnten. Sie kennen schlicht und ergreifend diese Arbeitsweise nicht und können sich wenig darunter vorstellen. Man kann ihnen auch nicht einfach ein Buch in die Hand drücken und erwarten, dass sie danach agil sind. Oder als Firmen-Policy definieren „wir sind ab jetzt agil“.

Ein erfolgreiches, von einem externen Profi begleitetes, Innovationsprojekt kann ein Unternehmen weit nach vorne katapultieren. Die Projektbeteiligten nehmen so viel Energie mit aus dem Prozess und sehen auf einmal viel mehr Sinn in ihrer Tätigkeit.

Über den Flurfunk und die Teams kann sich so eine Begeisterung wie ein Waldbrand verbreiten. Schon bald möchten alle Mitarbeiter Teil dieses Prozesses sein und auf diese Art und Weise arbeiten. Und naja, genau das ist doch eine Innovationskultur, oder nicht?

Wie können wir das Momentum aus diesen Projekten richtig nutzen?

Auch mit einem Pilotprojekt kann man vieles richtig machen – und vieles auch falsch. Während ein Erfolg große Wellen ziehen kann, kann ein missglücktes Projekt das Thema im Keim ersticken und verbrannte Erde übrig lassen. Es gibt vier wichtige Aspekte in einem solchen Projekt:

  1. Es sollten sowohl Führungskräfte und oberes Management als auch Mitarbeiter aus diversen Teams beteiligt sein. Das zeigt Commitment von oben und fördert den anschließenden „Waldbrand“.
  2. Sprecht so viel es geht über dieses Projekt. Seid transparent. Nehmt den Prozess, die Eindrücke und die Ergebnisse und treibt sie durch das ganze Unternehmen.
  3. Der vielleicht wichtigste Punkt: Macht etwas aus den Projektergebnissen! Nichts tötet das Momentum eines Projektes schneller als die Ergebnisse nicht zu respektieren oder versanden zu lassen. Nicht jedes Projekt resultiert in positivem Nutzerfeedback. Manchmal bekommt man auch zu hören, dass die Idee nicht funktioniert. Dann sollte man das Projekt auch nicht weiter treiben. Das würde das Team nur unnötig demotivieren. Kläre vorab klar was mit den Ergebnissen passieren soll und stehe dann zu deinem Wort!
  4. Mache nicht nur ein Pilot-Projekt. Mache es zur Routine. Führe direkt ein Dutzend Projekte durch. Viel schneller als erwartet wird man die externe Begleitung nicht mehr benötigen und hat die Art und Weise der Arbeit im Unternehmen grundlegend verändert.

Key Take-Away

Felix hat mich gebeten das Interview auf einen zentralen Punkt zu reduzieren. Eine Handlungsempfehlung an alle Unternehmen.

Beginne jetzt mit Innovation!

Das galt bereits vor der Corona-Krise und wird auch danach so sein. Und vor allem jetzt, während der Pandemie, ist es das Beste was ein Unternehmen tun kann.

Nur Unternehmen mit einer soliden, inhärenten Innovationskraft werden in der Zukunft eine Rolle spielen.

Folgende drei Schritte sollten besser gestern als heute angegangen werden:

  1. Erstelle eine Karte der User Journey und reichere sie mit bestehenden Informationen an.
  2. Suche dir einen kritischen Aspekt der Journey aus.
  3. Ruf mich an oder schreib mir eine Email und zusammen starten wir ein erfolgreiches Innovationsprojekt und einen Waldbrand im Unternehmen.

Scherz bei Seite, ich glaube fest daran, dass gerade die ersten Projekte extern begleitet sein sollten, um wirklich alle Weichen in die richtige Richtung zu stellen und die Gefahr von toter Erde rund um das Thema Innovation zu verringern.

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Über den Autor

Mit 15 Jahren Erfahrung aus Design, Produktmanagement, Software-Entwicklung, Prozessoptimierung und Strategieberatung liegt mein Herzblut in Innovationsprojekten und Workshop Moderation. Meine Liebe zum Pragmatismus und mein Hekel an nicht wertschöpfenden Dingen zieht sich durch all unsere Leistungen und Projekte. Ich freue mich darauf dich kennenzulernen – vielleicht kann ich auch euch zu mehr Agiltiät und schnelleren Ergebnissen verhelfen.